Katzenjammer in »St. Ade«

  • Uwe Ruprecht, Stade
  • Lesedauer: ca. 4.5 Min.

Nachdem die Stilllegung des Atomkraftwerks beschlossen ist, herrscht Ratlosigkeit im niedersächsischen Stade. Ist das der Anfang vom Ende?

Einblicke in das Innere des heißen Ofens sind selten gestattet. Anlässlich des 25-jährigen Betriebsjubiläums 1997 zeigte sich die Leitung des Atommeilers in Bassenfleth bei Stade zugänglicher. In orangefarbenem Overall auf bloßer Haut wurde ich durch ein Labyrinth aus engen Gängen und über schmale Gittertreppen geführt. Ummantelt von mehreren Betonschichten erzeugt die Kernspaltung im Reaktor Hitze, die zu Dampf wird, der die Strom-Turbine antreibt: 1500 Umdrehungen pro Minute, 630 Megawatt Leistung, fünf Milliarden Kilowattstunden jährlich. 60 Meter über dem Erdgeschoss, auf einem Balkon im Innersten des Reaktorgehäuses, gebeugt über das Wasserbecken, in dem die Brennstäbe abkühlen, ist das Anfassen des Geländers nicht ratsam: die Baumwollhandschuhe nehmen die Strahlung auf. Auch unter den Schuhen sammelt sich die Radioaktivität, die hier seit Jahrzehnten abgestrahlt wurde und als unsichtbarer Film auf allem klebt. Wer das Reaktorgebäude besichtigt, mag den Versicherungen der Betreiber nicht mehr glauben: Es ist, als würde man heute noch mit einem 30 Jahre alten Auto unterwegs sein. Zwar fährt es, aber jede Reparatur ist ein Glücksspiel. Das zweitälteste deutsche Kernkraftwerk hat sich seinen Ruf als »Schrottreaktor« redlich verdient. 70 Störfälle wurden in den letzten 15 Jahren publik. Am 11. August brannte es in der Warte, dem Kontrollzentrum der Anlage. Die Behörden wurden mit Verspätung informiert, Einzelheiten der Öffentlichkeit vorenthalten. In der Warte muss das Personal auf Computer verzichten. Für die Überwachung der »heißesten« Stellen sorgen Kameras; für die winzigen Schwarz-weiß-Monitore würde sich jedes Kaufhaus schämen. Mein damaliger Rundgang endete mit einer Panne. Um die Verstrahlung zu messen, tritt der Besucher in eine Schleuse, eine Metallkabine, und wird aufgefordert, die Hände in Aussparungen zu stecken. Eine weibliche Maschinenstimme schnarrt »Bitte positionieren« und dann: »Rückenmessung, Rückenmessung, Rückenmessung...« So viel zur Sicherheit. Aber nicht deswegen oder als Folge rot-grüner Ausstiegspolitik soll der Meiler als erster in Deutschland im Herbst 2003 abgeschaltet werden, neun Jahre vor dem Ende seiner Laufzeit. Vielmehr ist der Betrieb bei vergleichsweise geringer Leistung für den Energiekonzern E.ON unrentabel. Auch darin gleicht das AKW einem alten Pkw, der als Liebhaberstück am Leben erhalten wird: Zu hoher Spritverbrauch, zu wenig PS, kostspielige Reparaturen. Neben dem Meiler liegt der Strand. Hunderte tummeln sich hier an Sommertagen. Man sorgt sich um die Strahlen der Sonne, nicht um die des Reaktors. Doch so normal das Bad beim Kernkraftwerk für die Einheimischen ist, so heikel erscheint sie Ortsfremden. Als im Juli ein »Elbebadetag« ausgerufen wurde, tauchte die größte Badestelle zwischen Hamburg und Cuxhaven auf den Karten gar nicht auf. In der Region hat man ein inniges Verhältnis zum AKW. Die größte Demonstration, die ihm galt, war nicht gegen, sondern für seinen Erhalt. Störfälle werden in der Lokalzeitung oft zuletzt gemeldet. Nach der jüngsten Not-Abschaltung im August gab es nicht einmal von den Grünen Widerspruch dagegen, die Anlage erneut hochzufahren. Für das 46000 Einwohner zählende Stade ist das Kraftwerk ein Symbol für Wohlstand. In den 1960er Jahren war die Kreisstadt ein schäbiges Provinznest. Dann kam 1972 das AKW, und es ging aufwärts. Im Gefolge siedelten sich der Chemiekonzern Dow und die Vereinigten Aluminiumwerke in der Nachbarschaft an, später kam ein Airbus-Werk hinzu. Aus den Gewerbesteuereinnahmen konnte die Stadt die Sanierung ihrer Altstadt finanzieren. Das malerische Holpergassengewirr zieht seither Touristen an. 15 Fahrradminuten von der Elbe entfernt, unter trächtigen Wolken am blaugrauen Himmel, eng und verwinkelt im weiten, flachen Land. Gen Stade reisen Deutsche, wenn sie in der Heimat bleiben. Das AKW geht und mit ihm schwindet die Hoffnung. Nach 30 fetten Jahren droht eine magere Dekade. Bis zum bitteren Ende haben Politik und Verwaltung beteuert, dass sie treu und fest zum AKW stehen und das bloße Nachdenken über Alternativen als Ketzerei verdammt. Jetzt sind sie ratlos. 331 Menschen sind direkt im Meiler beschäftigt, insgesamt hängen rund 700 Arbeitsplätze daran. Und die einheimischen Hotels und Gastwirtschaften rechneten mit den 1000 Menschen, die alljährlich im Frühjahr während der Revision tätig waren. Etwa 150 Leute können noch für zehn Jahre beim angekündigten 500Millionen Euro teuren Rückbau Arbeit finden. Die Stadt hatte Angebote, ins Windkraft-Geschäft einzusteigen. Die Anlagen für den Off-shore-Betrieb, also die Aufstellung von Windrädern auf hoher See, sind zu groß und schwer für den Straßentransport und könnten besser über die Elbe, vom AKW-Anleger aus befördert werden. Die Stader Verwaltung wollte sich mit dieser Option erst gar nicht befassen. Das hätte die Zuversicht in den Weiterbetrieb des AKW beschädigt. »Wir haben uns ausgeschüttet vor Lachen«, kommentiert eine Bürgerin den ersten Vorschlag für die Zeit danach, den Stadtdirektor Dirk Hattendorff in die Welt setzte: Stade soll Kurort werden. Ein Anfall von Galgenhumor. Tatsächlich ist das Klima drückend geworden in der Stadt. Eine Produktionsstätte von BMW war das nächste Luftschloss von Politik und Verwaltung. Ohne Autobahnanbindung war die Bewerbung von vornherein chancenlos. Kürzlich wurde die Schließung der 129 Jahre alten Saline verkündet: 175 Arbeitsplätze weniger. Die Proteste der Arbeitnehmer und die Anfragen der Lokalpolitiker verhallten ungehört. Die niederländischen Konzernchefs fanden es nicht einmal nötig, ihre Entscheidung zu begründen. Mit einer ähnlichen Überraschung aus der US-Zentrale wird hinsichtlich des Dow-Werks und seiner 1600 Arbeitsplätze stets gerechnet. Als Datum für dessen Ende kursiert das Jahr 2015. Ein spöttisches Wort aus den 60er Jahren macht inzwischen wieder die Runde: »St. Ade«. Über Probleme redet man nicht in Stade. Alles eitel Sonnenschein, lautet die Parole. Sollten doch einmal Probleme ruchbar werden, leugnet man sie und ächtet jene, die den Finger in die Wunde gelegt haben. »Wir sind auf die Situation vorbereitet«, tönt Stadtdirektor Hattendorff. »In Stade gehen jetzt nicht die Lichter aus.« W...

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